Wir sind zurück in Fenham, jenem imaginären Ort in Massachusetts, den wir schon von der Geschichte „Die geliebten Toten“ her kennen. Es ist der 28. Juni 1924, an dem ein gewisser Dr. Morehouse in Begleitung von vier Männern vor einem Steingebäude, dem sogenannten Tanner-Besitz, vorfährt. Dieses Haus wird bewohnt von zwei Personen, nämlich dem Schriftsteller Richard Blake und dessen Faktotum Dobbs. Dieser Dobbs nun war, kurz vor der Ankunft des Dr. Morehouse, schreiend, mit Schaum vor dem Mund und wirres Zeug redend, aus dem Gebäude gestürmt.
So beginnt die vierte Zusammenarbeit von C. M. Eddy, jr. und H. P. Lovecraft, die wir uns vornehmen. Im Zentrum der düsteren Erzählung Deaf, Dumb, and Blind steht der genannte Richard Blake, der taub, stumm und blind aus dem Krieg heimkehrt. Er bezieht ein Haus, in dem es nicht mit rechten Dingen zugeht … und trotz seiner eingeschränkten Wahrnehmung wird Blake Zeuge aussersinnlicher Ereignisse, die sein persönliches Martyrium vollenden.
Es gibt einige Parallelen zwischen der Story und einem Antikriegsroman des amerikanischen Autors Dalton Trumbo: Johnny Got His Gun, erschienen 1939 und verfilmt 1971. Dabei geht es um den jungen Johnny, der taub, stumm und blind sowie ohne Arme und Beine aus dem Krieg heimkehrt. Fortan fristet Johnny sein Leben als immobiler Torso, der kaum in der Lage ist, mit der Außenwelt zu kommunizieren. Metallica nahmen diese Geschichte als Vorlage für ihren Song One.
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7. April 2022 um 20:03 Uhr
Hallo zusammen,
Ich habe eine Spekulation zur Rolle des Sumpfes hinter dem Tanner Haus anzubieten.
An einer frühen Textstelle wird ein Tunnel unter dem Sumpf erwähnt, der nach der Hinrichtung des Hexenmeisters wohlweislich zugeschüttet worden sei.
Zudem wird erwähnt, das Pandaemonium gegen Ende sei wie der kalte Wind Nifelheims.
In der nordischen Sagenwelt sind Sümpfe bzw. Moore oftmals Übergänge in die Unterwelt. Man denke an das Reich Grendels und seiner Mutter, in das sie Beowulf verfolgt.
Das Beben, das der Erzähler spürt, könnte der erneute Durchbruch aus der Unterwelt unter dem Sumpf sein, durch das die Heimsuchung möglich wird.
Sind wie gesagt nur meine Assoziationen und Spekulationen.
Dass Lovecraft diese „Funktion“ von Sümpfen kannte, kann ich mir kaum nicht vorstellen.
8. April 2022 um 13:26 Uhr
Der Sumpf als Übergang zwischen den Welten, insbesondere in der nordeuropäischen Tradition, ist in der Tat ein markanter Aspekt. Hier muss man sich auch an die diversen Opfermoore Norddeutschlands und Skandinaviens, bis hin zu den britischen Inseln erinnern.
Sumpf und Moor galten stets als Übergangszone zwischen den Welten, als nebelverhangenes, dräuendes Tor zur Anderswelt. Solche Stätten waren bisweilen Heiligtümer, wo z.B. die Waffen einer besiegten Streitmacht versenkt oder Menschenopfer dargebracht wurden, um jenseitige Mächte zu versöhnen.
Vermutlich waren sie bisweilen auch grimmige Richt- bzw. Grabstätte für Individuen, deren Rückkehr nach dem Tode man fürchtete, wurden sie nicht mit besonderen, bindenden Riten bestattet.
Aber gerade deswegen umgibt den Sumpf natürlich auch seit eh und je der Nimbus des heimgesuchten, unheimlichen, entrückten und Gefährlichen. Nicht wirklich Land, aber auch nicht Wasser, stets hungrig und heimtückisch auf den achtlosen Wanderer lauernd, von Irrlichtern umflackert, Brutstätte von Mücken und Blutegeln, wird diese zwielichtige Landschaft seither auch immer wieder in der Literatur rezipiert.
Seien es der schwarze See rund um Poes Haus Usher, die Totensümpfe bei Tolkien, Doyles Jagdrevier des Hunds von Baskerville oder das irische Mondmoor bei Lovecraft selbst.
Gerade letztere Geschichte umschreibt den Übergangsaspekt so deutlich, wie kaum eine andere Novelle und dürfte den bereits geäußerten Verdacht bestätigen, dass der alte Mann aus Providence mit der mythischen Bedeutung dieser Landschaft wohl vertraut war.
Daher scheint diese Lokalität auch für die Umtriebe eines sinisteren Hexenmeisters durchaus weise gewählt, wenn auch schon fast nicht übermäßig originell.
Interessant ist in der Tat auch der Aspekt der eher traditionellen Darstellung des Dämonischen oder ‚Bösen‘, mit den unvermeidlichen Hörnern und anderen ‚teuflischen‘ Eigenschaften – wenn gleichwohl diese weitestgehend ungesehen bleiben. Und gerade diese wohltuende Ambivalenz möchte ich Lovecraft zuordnen, erinnert mich jene Umschreibung doch deutlich an den ‚Wechselbalg‘, die (ironischerweise) namensgebende Macht aus ‚The Unnamable‘, ebenfalls ein behuftes und Hörner tragendes Etwas, welches sich als wirbelsturmartiger, amorpher Angriff auf Geist und Körper manifestiert, und dessen Charakteristika nur durch die hinterlassenen Wunden und sonstigen Spuren leidlich bestimmt werden können.
Ich könnte mir vorstellen, dass HPL hier bei seiner eigenen, erst im Vorjahr verfassten Schöpfung Inspiration borgte, um eine vermutlich allzu platte Beschreibung Eddys mit etwas ‚unseen Monster‘-Mehrdeutigkeit nachzuwürzen.
Der Vergleich mit ‚Johnny got his Gun‘ liegt natürlich nahe, gewinnt aber an Gewicht durch die Gegensätze des Horrors, welchen die Hauptfiguren ausgesetzt sind.
In ersterem haben wir einen noch ärger verstümmelten Protagonisten, der den Schrecken seiner Situation aus sich selbst heraus erleidet, also aus der geistigen Gefangenschaft im chaotischen, verstörten Inneren seines fleischlichen Gefängnisses, indem er nicht mehr weiß, ob er träumt oder wacht und sich nur noch den endgültigen Tod wünscht, der ihm verweigert wird.
Hingegen erfährt Richard Blake In ‚Deaf, dumb and blind‘ den Schrecken offenbar von außen, indem seine Sinne nach und nach reaktiviert werden, nur um ihm die schrecklichsten Ahnungen und Offenbarungen zu übermitteln (wobei auffällt, dass ein Charakter ähnlichen Namens, nämlich Robert Blake in ‚Haunter oft he Dark‘ zum Ende hin ebenfalls unbeweglich dasitzend und nur mehr automatisch schreibend einem Ende entgegenblickt, welches seine Sinne grausam durcheinanderwirbelt).
Würde ich Eddy mehr zutrauen, so wollte ich ihm unterstellen, dass er hier nicht ‚nur‘ einen spektakulären Aufhänger für seine Geschichte gewählt hat, sondern dass die sinnliche Isolation und stete Introvertiertheit Blakes zu einer Art permanenter, meditativer Trance geführt haben, welche ihn selbst zum Einfallstor und Gefäß dämonischer Kräfte werden ließ, ähnlich den Schamanen entsprechender Kulturen, welche sich durch Drogen, exzessive Anstrengungen, Schmerzen oder Selbstversenkung den angerufenen Geistern als körperliche Inkarnation anbieten .
So muss ich mich aber der bereits geäußerten Vermutung anschließen, dass der Autor hier wohl wieder einmal eine vielversprechende Grundidee hatte, dann aber nicht Nerv oder Talent, diese entsprechend subtil auszuarbeiten.
Aber wofür gibt es versierte Ghostwriter?