Die Mai/Juni/Juli Ausgabe 1924 veröffentlichte eine Geschichte von C. M. Eddy, jr. namens The Loved Dead (Die geliebten Toten). Dass die Redaktion damit — es geht in der Story um Nekrophilie – ein heißes Eisen angepackt hatte, bewiesen die folgenden Reaktionen; auch von einem Verkaufsverbot der Ausgabe ist die Rede. Dass die Story so zündete, war vielleicht auch der Verdienst H. P. Lovecrafts, der hier stärker als bei anderen Kollaborationen mit Eddy Hand angelegt hatte. Stellvertretend sei aus einem Leserbrief zitiert, den Weird Tales im November 1924 veröffentlichte:
Warum setzen Sie uns solche abscheulichen Storie vor! Ich habe Eddy’s Garn letzte Nacht gelesen. Es hat mich krank gemacht, aber ich konnte nicht aufhören zu lesen, weil die Geschichte faszinierend erzählt ist. Meine Augen müssen sich beim Lesen vor Schreck geweitet haben, denn als ich fertig war, war ich schweißgebadet, doch keine zehn Pferde hätten mich von Weird Tales fortziehen können, bevor ich fertig gewesen wäre. Doch bitte, bitte – warum servieren Sie uns solche ekelerregenden Themen! Gerne können Sie uns Mystery Thrillers und selbst harte Horrorgeschichten vorsetzen, ohne dass es uns auf den Magen schlägt. Poe hat das geschafft in solch unheimlichen Meisterwerken wie „Ligeia“ und „The Tell-tale Heart“, obwohl „The Case of M. Valdemar“ ebenfalls abstoßend ist. Ambrose Bierce’s beste Story ist diese unheimliche Mischung aus Wunder und Schönheit „An Inhabitant of Carcosa“, doch schreckt man davor zurück, einen ganzen Bierce-Band zu lesen aus Angst, über etwas wie „The Death of Halpin Frayser“ zu stoßen. Geben Sie uns alle „Ligeias“ und „Tell-tale Hearts“, die Sie finden können, doch um alles, was liebenswert und erbaulich ist, verschonen Sie uns mit weiteren Geschichten wie „The Loved Dead“.
Shownotes
- Hanns Heinz Ewers: Der schlimmste Verrat (1922)
- GM Factory: H. P. Lovecraft Die geliebten Toten [Hörbuch, deutsch]
- Internet Archive: Weird Tales May-June-July 1924
8. April 2022 um 13:01 Uhr
Wenn man Lovecraft oberflächlich als einen von vielen Horrorautoren betrachtet, sollte sein literarischer Hang zu makabren Szenerien, sowie Tod und Verfall nicht verwundern, gelten diese doch als gängige Topoi, bzw. typischste Klischees des Genres.
Was meiner Meinung nach dann aber dem Kenner auffallen sollte ist, dass Lovecrafts Geschichten, welche sich explizit um Leichen drehen, stets auch jene sind, die oftmals nicht nur ein starkes Echo Edgar Alan Poes beinhalten, sondern auch einen Hauch grimmigen Galgenhumors, der seinen anderen Geschichten fehlt.
Vom beinahe schwankhaften Charakter von ‚In the Vault‘ oder ‚The Tomb‘, die sich zum Teil wie elaborierte Volkssagen lesen, über die überdekadenten Friedhofs-Dandys aus ‚The Hound‘, den eiskalten Dr. Herbert West in HPLs wohl pulpigster Geschichte, bis hin zu Richard Upton Pickman mit seinen makabren Bildern nach der Realität und seiner Wiederkehr als gewitzter Ghoul. Stets zieht es die Protagonisten (nicht immer die Erzähler) zu den Toten hin, lockt sie der Verfall. Mal aus wissenschaftlichen Gründen, mal, weil sie dem ‚Ruf des eigenen Blutes‘ folgen oder okkulten Verlockungen – und schließlich auch, um düstere, romantische Triebe und ästhetische Gelüste zu befriedigen.
Und gerade diesen grimmigen Humor Lovecrafts vermeine ich auch in der vorliegenden Geschichte Edys durchschimmern zu sehen.
Nekrophilie ist natürlich ein dankbares Thema für den Horrorautor, da es eines der elementarsten Tabus unserer Gesellschaft ankratzt und daher für jeden Skandal billig zu haben ist.
Daher sind auch die entsprechenden, wenn auch abstrakteren Implikationen in Stokers ‚Dracula‘ sowie Polidoris ‚The Vampyre‘ und natürlich Le Fanus ‚Carmilla‘ gerade zu ihrer Zeit, kaum zu übersehen.
Die nach wie vor starke emotionale und moralische Einschlagskraft, welche dieser Tat innewohnt, wird deutlich, wenn selbst eine bahnbrechende Serie wie ‚Akte X‘ sich diese nur anzudeuten traut. Hingegen war der Charakter des Antagonisten ‚Donnie Pfaster‘ den Autoren nicht nur einen seltenen zweiten Auftritt wert, sondern sogar einen signifikanten Moralbruch eines Hauptcharakters (möchte nicht zu viel spoilern).
Und natürlich ganz zu schweigen von den, lange Jahre indizierten ‚Nekromantik‘ Filmen Jörg Buttgereits.
Das musikalische ‚Echo des Unvorstellbaren‘ findet sich gerne mal eher ruppig plakativ im extremen Metal und Horrorpunk, bisweilen aber auch schaurig feinsinnig und ästhetisch subtil im Gothic, wo ich ganz besonders das Werk von SOPOR AETRNUS hervorheben mag, welches sich, meiner Meinung nach, hervorragend als Soundtrack zur vorliegenden Geschichte oder auch dem bereits genannten ‚The Hound‘ eignet.
Ich möchte mir vorstellen, dass sich Lovecraft, ähnlich wie auch Poe, über die moralische Zersetzungskraft des psychischen Zusammenspiels von Tod und Ästhetik bis hin zur Erotik genau bewusst war und er hierauf als Stilmittel zurückgriff, wenn ihn eine subversive Laune überkam, und er auch mal seinen inneren Bürgerschreck herauslassen wollte.
Sogar sein Alter Ego Randolph Carter versteht sich schließlich ein wenig auf die Sprache der Ghoule. Und die Beschreibung des Sanctuariums der Grabräuber aus ‚The Hound‘ fällt ungewohnt explizit und nahezu pikant schwärmerisch aus.
Sollte er also tatsächlich bisweilen seinen diebischen Spaß beim Gedanken an schockierte Damen ungezählter Lesezirkel und empörte Bibliothekare in Schnappatmung gehabt haben, so muss Lovecraft diese Geschichte Edys nur recht gekommen und seine Mitarbeit daran eventuell noch umfangreicher ausgefallen sein, als ohnehin üblich.
10. Februar 2023 um 19:53 Uhr
Zur Frage des Publikums, für das hier geschrieben wird, hatte ich eine Assoziation zu einem, euch vielleicht bekannten, Videospiel: Anchorhead. Es ist ein lovecraftian Textadventure, deswegen die gedankliche Verbindung. In diesem ist es möglich, aber nicht notwendig, einen Text zu finden, den eine Figur, die in einer psychiatrischen Anstalt eingeschlossen ist, vor ihrem Suizid geschrieben hat. Diese Figur schreibt, gefesselt durch eine Zwangsjacke, ihre eigene Lebensgeschichte, mithilfe einer Nadel, die sie im Mund hält und mit dem eigenen Blut als Tinte. Dann versteckt sie den Text und die Spielenden können diesen später finden oder übersehen. Jede andere Figur, die im Ort lebt, ist Teil einer okkulten Verschwörung und würde die Notiz ziemlich sicher zerstören. Der arme Gefangene quält sich also schrecklich für seinen Text, von dem er fast sicher weiß, dass ihn niemand liest. Da steckt natürlich viel Videospiel-Logik drin, aber irgendwie kam mir die Frage nach dem Publikum auch hier, ähnlich wie ihr sie diskutiert habt.