Im Winter 1927/1928 fand in dem Hafenstädtchen Innsmouth in Massachusetts eine umfassende Razzia statt, die mit vielen Verhaftungen endete. Allgemein als Prohibition-Maßnahme bezeichnet, machte doch die Unterbringung der Festgenommenen stutzig: Sie wurden auf verschiedene Militärgefängnisse und sogar Konzentrationslager verteilt.
Auftakt zu der Razzia bildete der Bericht eines Informanten, der im Sommer 1927 panisch aus Innsmouth geflohen war. Dieser Informant aber ist unser Erzähler, der ankündigt, nun sein gesamtes Wissen öffentlich machen zu wollen.
Mit dieser Einleitung stellen wir einen der bekanntesten – und vielleicht auch umstrittensten – Texte Lovecrafts vor. Innsmouth ist fast schon so etwas wie ein Synonym für maritimen Horror geworden; Lovecrafts bekannte Abneigung gegen Fisch und Meeresfrüchte findet in der Erzählung ihren Niederschlag. Buchstäblich kultig sind auch seine Tiefen Wesen (Deep Ones), die ihren festen Platz im Cthulhu-Mythos eingenommen haben und den Blick weg vom Weltenraum in die See oder sogar Tiefsee lenken.
Doch wie sieht es mit der stark herabsetzenden Art und Weise aus, mit der die Fisch-Frosch-Wesen geschildert werden – und die regelmäßig einen Vergleich mit Lovecrafts Rassismus herausfordert? Dabei ist zu bedenken, dass es sich bei The Shadow over Innsmouth in erster Linie um eine phantastische Erzählung handelt, die allgemein auch in diesem Sinn rezepiert wird. Als fundierte Kulturkritik oder gar als politische Propaganda eignet sie sich unserer Meinung nach nicht – auch wenn sich eine aufmerksame Lesart nicht vollständig von Lovecrafts Weltbild frei machen kann.
2. Mai 2021 um 18:46 Uhr
Spät kommt mein Sermon, aber immerhin noch vor der nächsten Ausgabe.
Ich denke auch, dass ‚…Innsmouth‘ keine rassistische Botschaft vermitteln oder gar Ideologie propagieren soll. Zum einen weiß man, wie das bei HPL klingt (von ‚…Red Hook‘ bis zu seiner Beteiligung an dem, in jeder Hinsicht grauenhaft schlechten ‚Das Haar der Medusa‘), zum anderen stellt ja auch der Erzähler an einer frühen Stelle im Text fest, dass es sich beim Innsmouth-Look nicht um ‚rassische Merkmale‘ (verzeiht den Ausdruck), sondern um Symptome einer Krankheit, vielleicht eines inzestuösen Erbschadens handelt. Mit dieser Negierung des emotionalen, primitiven Vorurteils der umliegenden Bevölkerung zugunsten eines nüchternen, fast wissenschaftlichen Blickwinkels wird, meiner Meinung nach, die drückende Atmosphäre des Zerfalls wesentlich verstärkt, eine gewisse ‚biologische Unentrinnbarkeit‘ suggeriert.
Was die abschließende Umwandlung des Erzählers angeht, so sehe ich hier einen deutlichen Vorreiter, wenn nicht gar Einfluss auf David Cronenbergs Werk im Bereich des Body Horrors. Der Protagonist wird von seiner Metamorphose zuerst physisch wie psychisch überwältigt, kämpft sogar dagegen an, bevor er beginnt, sein neues Ich anzunehmen und schließlich soweit getrieben wird, dieses verbreiten, vermehren oder sonst wie vervielfältigen zu wollen.
Ob die Verwandlung im Falle ‚…Innsmouth‘ nun aber auch als Metapher zu verstehen ist (wie bei Cronenberg) oder als weiteres Stilmittel des ‚kosmischen Schreckens‘, wage ich nicht abschließend zu beurteilen, würde jedoch zu letzterem tendieren.
Irgendwie kann ich mir HPL weniger mit einem versöhnlichen Argument für die Akzeptanz des ‚Abartigen‘ vorstellen, als vielmehr mit einem literarischen Mittelfinger der Menschheit gegenüber: ‚Ihr könnt hunderte U-Boote und zehntausend Soldaten schicken – die Saat des Untergangs ist in uns allen gelegt und wir großspurigen, nackten Halbaffen ohnehin zum Aussterben verdammt.‘
3. Mai 2021 um 08:07 Uhr
Hi Nils,
besten Dank für den ausführlichen Kommentar!
Ich meine allerdings schon, dass Lovecraft – wenn auch nicht im Sinn einer Propaganda zu verstehen – mit xenophoben oder rassistischen Vorurteilen hantiert. Denn der Keim der Veränderung stammt aus der Südsee, von einer Gemeinschaft, die bereit ist, für materielle Werte bis ans Äußerste zu gehen: sich nämlich mit Dämonen einzulassen. Lovecraft stellt diese Leute gar nicht einmal als primitiv oder degeneriert dar, im Gegenteil haben sie es ja zu einer außerordentlichen Kunstfertigkeit gebracht. Aber er stellt sie uns wegen ihrer Geldgier als verwerflich hin. Und dieser giftige Tropfen, das Streben nach Unsterblichkeit und Reichtum, ist es, der das gute Salz der Erde Neuenglands vergiftet. Da haben wir dann einmal mehr eins von Lovecrafts Lieblingsthemen: Materialismus vs. Idealismus.
Der daraus resultierende Innsmouth-Look, der ja, wie du schon sagst, als Krankheit beschrieben wird: nun, der scheint sich ab irgend einem Punkt verselbstständigt zu haben. Es ist gewiss eine horror-mäßige Vorstellung, sich in ein amphibisches Wesen (zurück) zu verwandeln. Doch gerade in diesem Punkt ist es bemerkenswert, wie sich der Erzähler am Schluss damit zu arrangieren scheint; mehr noch: wie er der vollständigen Metamorphose freudig entgegenblickt …
3. Mai 2021 um 10:31 Uhr
Interessanter Punkt, was die Geldgier angeht. Allerdings hätte ich dies jetzt spontan als einen eher moralischen Vorwurf aufgefasst, als einen rassistischen. Schließlich differenziert der Text hier sogar, wenn er Zadok Allen von den Ozeaniern, welche Walakeas Leute offenbar ausgerottet und Schutztalismane auf deren Insel verteilt haben, als ‚feine Kerle‘ sprechen lässt, die ‚genau wussten, was sie zu tun hatten‘. Somit werden diese nicht nur positiv, sondern sogar in gewisser Weise der ignoranten und verweichlichten Zivilisation überlegen dargestellt, zumindest in soweit, als dass sie einer archaischen Gefahr besser entgegentreten und sie abwehren konnten, als das Volk von Innsmouth, mit all seinen Priestern und Freimaurern.
Keine Sorge, ich will Lovecrafts wohlbekannten und widerwärtigen Rassismus nicht relativieren und bin auch nicht so naiv zu glauben, dass er hier plötzlich eine positive Kehrtwendung gemacht hätte. Und ich weiß auch, dass ich mich für die Argumentation an haarfeinen Ankerpunkten entlang hangele, wie besagten Nebensätze aus Zadoks Monolog.
Aber unter dem Aspekt des ‚Experiments‘ scheinen HPLs ‚rassischen Ansichten‘ für mich hier eher Richtung Robert E. Howard zu driften, also den ‚edlen Wilden‘ auf der einen Seite und das ‚degenerierte Gezücht‘ welches die eigene Menschlichkeit aus eigener Entscheidung heraus schon so weit hinter sich gelassen hat, dass man es nicht mehr mit humanen Maßstäben messen kann.
Natürlich ist auch das eine kontroverse und mittlerweile im besten Sinne unmoderne Erzähltradition, aber im Werk von HPL schon bemerkenswert, wie ich finde.
Ich würde mir wahrscheinlich wünschen, dass Lovecraft hier vorübergehend an einem Punkt war, wo er tatsächlich genug Ironie aufbringen konnte, um auch die eigenen, persönlichen Ansichten nicht nur ungefiltert in sein Werk einfließen zu lassen, sondern sie auch einmal zugunsten eines differenzierteren Erzähltonus literarisch etwas positiver zu drehen und zu wenden.