Mit Medusa’s Coil (Das Haar der Medusa) erreicht die Kollaboration zwischen Lovecraft und der Autorin Zealia Bishop ihren zweifelhaften Höhepunkt. Die Story, welche deutlich Lovecrafts Handschrift trägt, fristet in der Sekundärliteratur ein Schattendasein. Dabei ist sie ein beredtes Beispiel für Lovecrafts Rassismus und weist — was wiederum eher selten bei ihm vorkommt – eine prägnante Frauengestalt auf, die hier die Rolle des bösen oder verwerflichen Parts einnimmt.
Eigenartig ist Lovecrafts Herangehensweise, die antike Sage um das Schlangenhaupt der Medusa in einem dekadenten Zirkel der Pariser Bohème anzusiedeln, um sie von dort aus in eine gediegene Pflanzerfamilie der amerikanischen Südstaaten zu transportieren. Doch das sind lediglich zwei Eckpfeiler einer Geschichte, die ebenso atmosphärisch wie atemlos daherkommt und mit einer verwirrenden Vielzahl von Eindrücken und Themen aus Lovecrafts Repertoire aufwartet.
Shownotes
Deep Cuts in a Lovecraftian Vein: “Medusa’s Coil” (1939) by Zealia Bishop & H. P. Lovecraft
14. August 2022 um 17:18 Uhr
Ich mag Axels Ansatz. Was wäre, wenn man über diese Story in einer Anthologie stolpern würde, ohne Angabe einer Urheberschaft?
Nie würde man sie Howard Phillips Lovecraft zuordnen. Oder zuordnen wollen.
Im Gegenteil, es gibt gerade gegenwärtig so viele Autoren, die eine zweit- oder drittklassige Geschichte dadurch aufwerten wollen, indem sie eine holprige Lovecraft Reminiszenz mit dem Stemmeisen hinein würgen. Und da allzu viele Menschen Lovecraft mittlerweile auf seine berühmteste Schöpfung reduzieren, muss es halt der unvermeidliche Cthulhu sein, ob es nun passt oder nicht.
Dies jedoch von dem alten Mann aus Providence selbst literarisch um die Ohren geschlagen zu bekommen, das tut schon weh. Aber ich greife vor.
Erst einmal in medias res: der widerwärtige Rassismus, der an allen Ecken und Enden aus den vorliegenden Zeilen trieft, macht es schon schwer genug, dieses Werk zu lesen. Sei es der unfassbar dumme letzte Absatz, der nicht von dem alten Gutsherrn, sondern dem jungen Erzähler selbst formuliert wird, sei es der Rassenhass, der sich, á la ‚Birth of a Nation‘ als Wohltäter tarnen möchte und behauptet, er bewahre nur die ’natürliche Ordnung‘, welche dem ach-so-gütigen Weißen nunmal die Bürde aufgehalst habe, für die ‚unterentwickelten Schwarzen‘ als väterlicher Herr und Zuchtmeister zu sorgen. Eine unverzeihliche Scheußlichkeit.
Mirko hat absolut recht, dass eine Zensur dieser Inhalte falsch wäre, sie aber natürlich nie ohne entsprechenden Kommentar stehen bleiben dürfen, im Hinblick auf ihre Entstehungszeit, aber leider auch auf ihren Verfasser. Denn da es leider allzu klar ist, dass die gewählte Sprache und Weltsicht von diesem nicht nur eingesetzt wird, um den Charakteren Authentizität zu verleihen, sondern auch die eigenen Perspektiven und Sehnsüchte Lovecrafts nach einer ‚guten, alten Zeit‘ widerspiegeln, kann es gerade den ambitionierten Leser und Fan einfach nur wütend und frustriert zurücklassen.
Doch diesen Brocken tatsächlich mal beiseite lassend, bleibt noch die Geschichte selbst. Und die lässt einen wirklich kopfkratzend und mit der Frage zurück, was Lovecraft hier im gestreckten Galopp geritten haben mag.
Angeblich, wie Ihr berichtetet, hat man den enthaltsamen Neuengländer ja schon mal mit heimlich verabreichten, minimalen Mengen Alkohol zum singen und feiern gebracht. Entspricht dies der Wahrheit, dann möchte ich wissen, wer ihm hier Kokain als Schnupfenmedizin untergeschoben hat.
Ich sehe Lovecraft förmlich vor mir wie er mit zerzaustem Haar und wildem Blick, die Pulverreste noch unter der Nase, aus dem Sessel springt, sich auf seinen Schreibtisch stürzt und lauthals verkündet: „Ich schreibe jetzt die ultimative Horrorgeschichte. Und ich packe alles rein! Den Gothic-Horror aus ‚Ratten im Gemäuer‘! Die monströse Femme fatale aus ‚Ding auf der Schwelle‘! Den Griff aus der Vergangenheit aus ‚Charles Dexter Ward‘! Griechische Mythologie! Dekadenz! Huysmans! Lautreamont! Clark Ashton Smith! Cthulhu! R’lyeh! Voodoo! Frankreich! Und meinem guten Freund, Robert E. Howard, mache ich auch noch eine Freude, indem ich eine Hommage an sein ‚Tauben aus der Hölle‘ draus mache! YEAH!“.
Und man möchte sich wünschen, letzterer wäre nach dem Lesen dieser Novelle extra von Texas nach Neuengland gefahren, um seinem kontroversen Freund und Kollegen kopfschüttelnd einen schallende ‚Gibbs Slap‘ zu verabreichen.
Weniger ist manchmal tatsächlich mehr. Und sowohl atmosphärisch, als auch erzählerisch sind hier jede Menge gute Ansätze vorhanden, aus denen im einzelnen jeweils ein schauriges Souffle hätte werden können. Dieses wirre Konvolut aus gnadenlos zusammengematschten Zutaten hat jedoch eher die zweifelhafte Bekömmlichkeit von Montageschaum.
Lovecraft benutzt Versatzstück aus seinem eigenen Œuvre, wie vorgenannt, türmt sie dabei aber so ungewohnt plump und ungeschickt aufeinander, dass unter dieser Last jede anfangs sich versprechende Stimmung erdrückt wird.
Vielleicht hat er hier zu sehr an den Leser denken wollen oder wurde dahingehend von Zealia Bishop überzeugt, etwas mehr Sex & Crime einzubauen, was dann aber in den von Euch zurecht als hölzern beschriebenen, schablonenhaften Figuren und andere Unglaubwürdigkeiten ausartete.
An dieser Stelle bin ich fast ein wenig enttäuscht, dass Mirko nicht seine berufliche Erfahrung mit Schmackes in den Ring geworfen hat, denn einer der größten Brüche in der Integrität dieser Erzählung ist für mich ein alter, nahezu gelähmter Mann, der es alleine(!) schafft, in einer einzigen Nacht nicht nur drei frische Leichen durch die Stockwerke eines großen Herrenhauses zu schleppen, sondern für sie alle auch noch passable Gruben im Keller auszuheben und wieder zuzuschütten.
Normalerweise bin ich in der Lage, solche Unrealismen zugunsten einer spannenden Story zu ignorieren. Hier aber hat es mich fast gewaltsam aus der ohnehin dünnen Stimmung gerissen und danach war der Lesespaß endgültig vorbei.
Nochmal zum vorgenannten Robert E. Howard: Ich könnte mir tatsächlich vorstellen, dass Lovecraft sich durch dessen 1934 geschriebene Geschichte ‚Pigeons from Hell‘ mit hat inspirieren lassen. Auch hierin finden sich der nächtliche Unterschlupf in einem alten Plantagenhaus, ein dunkles Familiengeheimnis, Sklaverei, Voodoo, sogar das Schlangenmotiv kommt vor und es gibt einen Twist mit leicht rassistischer Konnotation zum Schluss. Allerdings brilliert der Autor in dieser Erzählung mit einem spannenden Aufbau, der Konzentration auf einen stringenten Handlungsverlauf und permanent aufrecht gehaltener Atmosphäre.
Es geht um die Rache einer misshandelten Sklavin, welche mit übernatürlichen Mitteln aus der sie unterdrückenden Gesellschaftsstruktur ausbricht, was zwar zu viel Gewalt und Blutvergießen führt, durch die herbe Moral des Conan-Erfinders Howard aber als nahezu gerechtfertigt oder zumindest verständlich erscheint. Am Ende ist klar, dass die Sympathien hier nicht bei der weißen Herrschaft liegen und die Story lässt sich, meiner Meinung nach, auch heute noch gut lesen und vertreten.
‚Das Haar der Medusa‘ ist – mal ungeachtet aller anderen genannten Schwächen – hierzu fast die Antithese. Eine ‚rassisch unreine‘, verderbte Person schleicht sich mit übernatürlichen Mitteln in die bestehende Ordnung ein und untergräbt diese moralisch und zerstört sie.
Im Kontrast zu Howards älterer und dennoch geistig weit moderneren Novelle begibt sich Lovecraft daher umso mehr auf ein reaktionäres Glatteis, das schon in den Vereinigten Staaten seiner Zeit eine Menge Stirnrunzeln und Abscheu hervorgerufen haben dürfte, zumindest jenseits des Biblebelts.
Aber genug aufgeregt. Wie immer bleibt mir nur, Eure Arbeit und Analyse zu loben. Mir persönlich ist diese Geschichte ein dermaßenes Ärgernis, dass ich Euch am liebsten einen dafür ausgeben würde, sich so ausführlich und detailliert damit auseinandergesetzt zu haben. Respekt!
Die Dorian Gray Komponente finde ich sehr interessant und naheliegend. Ich hatte, wohl mit leichtem Tunnelblick, versucht, eine Verbindung zu ‚Pickmans Modell‘ zu finden, was die Darstellung einer dämonischen Entität anging.
Eventuell findet sich in dem Bild auch der Versuch Frank Marshs wieder, die unheimliche Marceline zu bannen, indem er ihr wahres Antlitz enthüllt, ähnlich wie der böse Geist im Exorzismus bei seinem wahren Namen gerufen werden muss.
Sehr gespannt bin ich auf Eure kommenden Beiträge zu Joris-Karl Huysmans und Lautreamont. Die Einflüsse von dieser Seite auf Lovecrafts Werk dürften eine spannende Auseinadersetzung versprechen.
16. August 2022 um 07:58 Uhr
Hallo Nils,
um nur auf einen der angesprochenen Aspekte einzugehen:
Sehr richtig; eine ähnliche Fragestellung hatten wir schon einmal (bei welcher Story?). Gerade die Krankheit des alten de Russy wird mehrfach als eminentes Handicap erwähnt — und dann so eine Aktion! Mich hat indessen stutzig gemacht, dass das Blut der Toten durch die Decke sickert und von unten zu sehen ist. Gibt es in dem Haus keinen Bodenbelag und darunter keinen Estrich?
Viele Grüße
Axel
16. August 2022 um 14:07 Uhr
„eine ähnliche Fragestellung hatten wir schon einmal (bei welcher Story?)“
Ich glaube, entweder bei ‚Der Hund‘, wo die beiden Grabräuber sich nonchalant durch den holländischen Friedhof wühlen, oder bei ‚Herbert West‘, wo das Ein- und Ausbuddeln, sowie Herumschleppen ungezählter Leichen ja fast industriellen Maßstab annimmt, und dennoch von zwei spirreligen Hänflingen bewerkstelligt wird. Nacht für Nacht, zusätzlich zum erschöpfenden Tagwerk.
Bezüglich des Blutes fragt man sich auch, wie der alte, gebeugte Mann es geschafft hat, dies wieder zu entfernen, zu verdecken oder sonstwie verschwinden zu lassen, wird doch noch explizit erwähnt, dass er zu seiner Bürde als unfreiwilliger Bestatter noch das ganze Haus gereinigt und alle Spuren des Verbrechens verdeckt habe.
Vielleicht hat er die Decke ja von oben einfach weggehackt. Scheint ja entsprechend dünn und porös gewesen zu sein.
Im Ernst, in jeder anderen Geschichte hätten sich solche Logikbrüche einfach ‚weggelesen‘. Aber hier ragen sie aus der Handlung, wie der Nerv aus einem abgebrochenen Zahn – und fühlen sich auch so an.
17. August 2022 um 01:42 Uhr
„eine ähnliche Fragestellung hatten wir schon einmal (bei welcher Story?)“
„In der Gruft“ war es. Mit der berechtigten Frage, wie viel Särge so ein gebrechlicher Trunkenbold denn wohl zu stapeln vermag. 😉
Grüße aus Bochum !
19. August 2022 um 14:03 Uhr
‚Jenga‘ spielen mit Lovecraft muss ein echter Alptraum gewesen sein…
14. August 2022 um 20:49 Uhr
Vielen Dank für die neue Podcast-Folge.
Als durchgeknallte Quatsch-Geschichte mag ich die Story sehr.
Für Freunde des Haar-Horrors hier noch zwei Filme.
„Exte“ habe ich gesehen. Er ist wunderbar verrückt.
„Bad Hair“ habe ich noch nicht gesehen. Mach ich aber demnächst.
Exte
https://www.schnittberichte.com/review.php?ID=14732
https://www.amazon.de/Exte-Extensions-Asien-Sion-Sono/dp/B0036X90H2/ref=tmm_dvd_title_0?_encoding=UTF8&&qid=1660498714&&sr=8-4
Bad Hair
https://de.wikipedia.org/wiki/Bad_Hair
https://www.amazon.de/s?k=Bad+Hair+-+Waschen%2C+schneiden%2C+t%C3%B6ten&i=dvd&__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=34QBDLOKF6ZYL&sprefix=bad+hair+-+waschen+schneiden+t%C3%B6ten+%2Cdvd%2C73&ref=nb_sb_noss
Greetings
Funduke
16. August 2022 um 14:10 Uhr
Das sieht gut aus. Von ‚Exte‘ habe ich schon einmal in einer Dokumentation zum aktuellen japanischen Horrorkino gehört, aber ganz verdrängt.
Der kommt auf jeden Fall auf die Liste, vielen Dank.
14. August 2022 um 23:04 Uhr
Asche auf mein Haupt, da muss ich mich gleich selber korrigieren, denn ich habe unbedacht nur auf die Veröffentlichungsdaten geschaut.
Wenn, dann war Robert E. Howard inspiriert von Lovecrafts Geschichte, denn die Medusenmatte ist vier Jahre älter als seine Höllentauben.
Jetzt könnte man immerhin noch hoffen, dass der scheue Südstaatler es mit dieser Story absichtlich besser machen wollte, als sein neuenglischer Zunftbruder – und das dann auch geschafft hätte.
15. August 2022 um 15:58 Uhr
So ist das eben Axel und Mirko: Ich bin eine gelegentliche Lovecraft Leserin, weit entfernt von jedem Expertentum. Aber wie ihr es auch bei nicht so gelungenen Geschichten schafft, eine Stunde Interessantes und Wissenswertes herauszuarbeiten, »beyond the tip of your nose«, lässt mich keine eurer Folgen verpassen.
btw: Eine schöne Gespenstergeschichte über einen Ort, den es eigentlich nicht gibt, kann man hier hören (Die Pointe ist jetzt leider weg, aber die Geschichte von 1860 ist imho eine Perle, zumal in dieser Hörspielbearbeitung von 1956):
Friedrich Gerstäcker ›Germelshausen‹
Phantastische Geschichten (3/9):
https://www.ndr.de/kultur/Phantastische-Geschichten-3-Germelshausen,audio1135792.html
16. August 2022 um 07:51 Uhr
Hallo Lena,
richtig: „Germelshausen“ ist eine dieser Geschichten, die mir in den Sinn kamen (aber im Podcast nicht einfielen) … besten Dank für den Link.
Viele Grüße
Axel
15. August 2022 um 22:00 Uhr
Noch mehr zum Thema autonome Haare:
Shatner’s Toupee in
Adult Swim – Robot Chicken – Staffel 1, Episode 11 – Toy Meets Girl
https://www.youtube.com/watch?v=4e83KuEdhYQ
Greetings
Funduke
15. August 2022 um 23:15 Uhr
Hier noch drei Links für Leute, die weder selber lesen noch selber suchen wollen (Sind wir nicht alle hin und wieder ein bisschen faul?):
H. P. Lovecraft: Das Haar der Medusa [Hörbuch, deutsch]
Eine Produktion der GM-Factory
Gelesen von Gregor Schweitzer
https://www.youtube.com/watch?v=_wTY5wU7jyU
‚Pigeons from Hell‘, deutsch: „Tauben aus der Hölle“ von Robert E. Howard
kann man nach kostenloser Registrierung bei Spotify als Gruselkabinett Hörspiel (von Titania Medien) anhören.
https://open.spotify.com/album/72b1wvAa63uV61rFmWDlKw
„Das Bildnis des Dorian Gray“ von Wilde
Gibt es hier
https://librivox.org/das-bildnis-des-dorian-gray-by-oscar-wilde/
als public domain Lesung.
Man kann es sich auch noch bis zum 22.12.2022 als Hörspiel in der Mediathek beim WDR herunterladen:
https://www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/sendungen/wdr3-hoerspiel/das-bildnis-des-dorian-gray-100.html
Viel Spass beim Hören!
Greetings
Funduke
16. August 2022 um 07:53 Uhr
Hallo Frank,
natürlich hast du Recht, was die Faulheit betrifft, — von daher: vielen Dank für die ergänzenden Links und die inhaltlichen Erweiterungen, speziell was die cineastische Seite betrifft.
Viele Grüße
Axel
17. August 2022 um 17:12 Uhr
Das hier verdient als Assoziationsbröckchen natürlich auch noch Erwähnung:
„Medusa-Man (Serienmörder Ralf)“ von Die Ärzte
https://open.spotify.com/track/0K1XuiJYOir5KBszfPFZfj?si=e7ef97ac89d34bdd
aus dem Album „Le Frisur“
https://open.spotify.com/album/693nPQ7XIq4DCNZflIuzJi
Ist schon ein Vierteljahrhundert alt, trotzdem supi! 🙂
Greetings
Funduke
18. August 2022 um 14:23 Uhr
Zum Thema „böses Haar“ gilt es eigentlich nur eines zu kennen
https://youtu.be/SWUizXzVCZc
27. August 2022 um 12:46 Uhr
Mehr über Lautréamont?
Ja bitte!
Grüße
Michael